Zeitumstellung. // Eine kurze Geschichte der Zeit.

Photographed in southwestern region of Iceland.
Kindly supported by Jacques Farel Hayfield.
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Es wird Herbst. Die Zeit zurückgedreht. Stürme ziehen über das Land, der erste Schnee setzt sich lautlos in die Berge. Es ist kalt, früher dunkel, das Wetter rau. Im Kamin brennt fast jeden Abend ein Feuer, die Katzen liegen stets in seiner Nähe. Wir sind jetzt beide verheiratet. Linda’s Opa sagt: “Ihr seid ein Haushalt glücklicher Menschen”. Er hat recht. Die Zeit hat sich für uns irgendwann umgestellt. Auf Herbststürme und Kakao in der Dämmerung. Auf Katzen und Lebkuchen im Wohnzimmer. Auf gemeinsames Rotweintrinken nach dem Selbstgekochten. Wir sind glücklich damit. Mit der Verlangsamung. Mit dem Stillstand. Aufbruch und Umbruch hat die letzen Monate gezeichnet, unserem Leben seinen Rahmen vorgegeben, die Zukunft und die Richtung definiert. Alles war schnell, so schnell, flog im Sauseschritt an uns vorbei, bis die Zeit uns eingeholt, uns überholt hatte. Und dann… Ruhe. Endlose Stille. Vorfreude auf den einsetzenden Winter. Mit dem Wechsel der Jahreszeit auch der Wechsel des Lebensrhythmus. Weihnachtslichter zum Frühstück, Spaziergänge am aufgewühlten Meer, die erste Schicht Pulverschnee. Dicke Mäntel und eine Landschaft getaucht in die Farbpalette des späten Herbstes. Abends manchmal Serie, meistens aber die Finger über den Tasten – es ist die perfekte Zeit, um ein Buch zu schreiben. Es ist die perfekte Zeit für Zeit.

Zeit nehmen, Zeit geben, sich Zeit lassen. Alles wird dominiert von Langsamkeit.

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Es ist Zeit für eine allgemeine Zeitumstellung. Für uns alle, wir müssen uns immer und immer wieder daran erinnern.

Wir leben im Zeitalter der Hektik, des Stresses, des immer schneller und schneller – wirbelnd, gurgelnd, rast die Zeit an uns vorbei. Wir haben kaum noch Zeit zu atmen, geschweige denn, wirklich etwas aufzunehmen, zu empfinden. Unsere Generation lebt ihr Leben auf Instagram, liebt in perfekt inszenierten Fotos für andere, nur nicht für sich selbst, wir ertrinken in Überstunden, in Statussymbolen, in work, work, work. Wir messen uns in ‘nötigen Kaffees’ – wer mehr Kaffein braucht, um die kurze Nacht und den bevorstehenden langen Tag zu meistern, der hat gewonnen. Work Life Balance bedeutet hauptsächlich, die Zeit, die man nicht mit Arbeit ausfüllt, mit möglichst vielen anderen Eindrücken weiter zu verkürzen. Wir wissen Langeweile nicht mehr zu schätzen, Langsamkeit erfüllt uns nicht, fünf Minuten Ausblick rauben uns vier Minuten, die wir bereits mit dem nächsten Abenteuer verbringen könnten. Wenn wir uns sonnen, lesen wir gleichzeitig ein Buch auf dem Tablet, schreiben drei Messages und überdenken den Plan für die nächste Arbeitswoche. Mehr und mehr verlernen wir das Abschalten, das echte Innehalten. Momente sind eine Sammlung, die vor allem möglichst groß sein soll. Mehr ist mehr ist mehr ist mehr.

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Wer liebt, liebt schnell. Beziehungswechsel, wenn das große Kribbeln aufhört. Ein Team zu sein ist nicht genug, Partnerschaft wird mit dem immer währenden Gefühl des überwältigenden Verliebtseins verwechselt. Wenn die Schmetterlinge sich niederlassen, weil sie endlich zu Hause angekommen sind, dann werden sie für tot erklärt und ein neuer Schwarm muss her. Niemand hat mehr Lust, für die Liebe Kompromisse einzugehen, es sei denn, es handelt sich um jene für sich selbst. Ich zuerst, dann vielleicht du. Freundschaften ersetzen Freundschaften. Wir entscheiden uns schneller um, als wir Kaffee sagen können. Selbst wenn wir es eigentlich besser wissen, so lassen wir alle uns ab und an in den Strudel mit hineinziehen. Glauben, dass wir mithalten können müssen, mit dem unfassbaren Tempo, das unsere Wohlstandsgesellschaft lebt.

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Es gibt immer und bei allem Ausnahmen, Menschen, die sich bewusst mehr Zeit nehmen, egal, wie viele Augenverdreher sie damit ernten werden. Aber im Durchschnitt fliegen wir zusammen durch das Leben. Der Arzt hat nur noch Zeit für ein Nicken, für die richtige Schreibweise deines Namens hat im Store niemand mehr genug Sekunden, an der Kasse wird geseufzt, wenn eine alte Dame ihr Portemonnaie zu spät zückt. Für ordentliches Anstehen fehlt der Anstand, man drängelt kollektiv. Im Flugzeug stehen hundert Leute beim Erlöschen des Anschnallzeichens mit der Hand an der Ablage, am Band sammeln 80% des Fliegers ihren Koffer genau dort ein, wo er ausgespuckt wird. Trommelnde Finger auf den Theken der Welt und Touren-Busse, die mindestens fünf Stationen pro Sightseeing Tag schaffen. Es ist nicht nur der Stress, der in der Arbeit gesucht wird, um sich damit profilieren zu können (man bin ich ausgebucht, fertig mit den Nerven, produktiv), auch der ganze Lebensrhythmus wird angepasst. Wir müssen scheinen. Ein leuchtendes Beispiel für Schnelligkeit abgeben. Wir müssen etwas erreichen, unser Leben füllen und Erfüllung bedeutet schlichtweg ‘viel’. Viel gesehen, viel erlebt, viel gelesen, verarbeitet, geliebt. Aus einer Generation der Tagträumer und Phantasten ist eine Herde waghalsig hetzender Girlbosse geworden, die alles können – selbst jonglieren mit Karriere, Haushalt, Finanzen, Kindern und Erlebnissen. Und wir beglückwünschen uns gegenseitig zu dieser Wendung. Feiern uns dafür, dass wir nur noch in der Theorie Zeit für die Natur haben. Fürs Zusammensein. Für echten Austausch. Für Tiefe.

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Es ist Zeit für eine Zeitumstellung. Zeit, sich mal wieder Zeit zu nehmen. Sich in einem Tag Langeweile zu verlieren, in die Natur zu starren und nur einen Auszug des Möglichen zu bewundern. Sich nicht nur selbst zu lieben, sondern auch an sich zu arbeiten. Nicht nur zu jagen, sondern auch bewusst zu sammeln. Nicht für eine besonders umfangreiche Sammlung, sondern für den tatsächlichen Moment. Wir selbst müssen uns jeden Morgen daran erinnern, nicht blind durch den Tag zu hetzen, den Kaffee zu trinken, weil er schmeckt, in aller Ruhe zu frühstücken und Pausen zu machen. Nicht in Eilgeschwindigkeit zu spazieren, um Bewegung zu bekommen und ein bisschen frische Luft zu schnappen, sondern uns auf eine der Bänke am Meer zu setzen und einfach über die Wellen zu starren. Mindestens einmal die Woche Zeit für echte Gespräche zu haben, sich gegenseitig zuzuhören, einen Film zu schauen, ohne das Handy griffbereit zu wissen. Zusammen zu kochen, kleine Momente bewusst in die Länge zu ziehen. Damals, als man sich nach der Schule am Nachmittag nach Lust und Laune langweilte – da hätten wir es nie für möglich gehalten, dass wir uns gegenseitig würden ermahnen müssen, zumindest einmal in zwei Wochen auszuschlafen. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diesen Winter das Tempo zu drosseln, wenigstens ein Wochenende in der Einsamkeit zu verbringen, im Schnee zu spazieren, sobald er fällt und zwei Mal die Woche den Kamin anzuschmeissen – komme was wolle.

Uns gefällt das hohe Tempo nicht, wir wollen uns nicht wie Roboter fühlen, die sich mechanisch über Trophäen aus Stress freuen. Zwei Monate Rennen war genug, es ist Zeit für einen Ausgleich. Für eine Umstellung. Hin zu Natur und Langsamkeit, zu Kakao und Kamin. Ohne schlechtes Gewissen, das man nicht genug schafft, das man nicht genug mitnimmt, aushält, durchmacht und vorweist. Wir nehmen uns jetzt Zeit für die Zeit.

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